Laut Fine sind die Verschiedenartigkeiten zwischen typisch männlicher und weiblicher Persönlichkeit keine genetische Anlage, wie viele Ratgeber (und sogar Fachbücher) heute behaupten. Sie sind erlernte Angewohnheiten, welche wir im Umgang mit unserem Umfeld bereits sehr früh adaptieren. Die allseits bekannten Klischees davon, was Männer besser können als Frauen und was nicht, werden laut Fine zu einer „Self-fulfilling Prophecy“. Wer konkret ein Ereignis oder eine Verhaltensänderung erwartet, trägt selbst dazu bei, dass diese(s) eintritt. Nicht nur, wenn wir uns selbst etwas einreden, sondern auch die Meinung unserer Umwelt von uns kann die Zukunft beeinflussen.

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Der Pygmalion-Effekt konnte bereits in den 1960er Jahren durch die US-Psychologen Rosenthal und Jacobson nachgewiesen werden. Sie wählten zufällig Schüler aus und erzählten den Lehrern, dass die ausgelosten Schüler besonders begabt seien. In den folgenden Klassenarbeiten und Tests schnitten die Kinder tatsächlich viel besser ab, als die Grundgesamtheit der Klasse. Die Lehrer hatten (fälschlicherweise) den `begabten´ Schülern mehr Aufmerksamkeit gewidmet und dadurch einen höheren pädagogischen Erfolg bei diesen Kindern erzielt. Die rein fiktive Vorhersage der Wissenschaftler wurde also in der Realität wahr. Derartige psychoanalytische Vorhersagen funktionieren hervorragend bei positiver Selbstbestärkung, aber leider auch bei negativen Vorurteilen. Wer mit einem schlechten Gefühl in eine Klausur geht, steigert damit tatsächlich die Chancen dafür, schlechter abzuschneiden – unabhängig davon, wie gut er/sie vorbereitet ist.

Aber zurück zu Fines Theorie: Geschlechterklischees sind in unserer Gesellschaft universell präsent. Zunächst scheinen sie dadurch valide bestätigt zu werden. Aber der Schein trügt. Die Folge ist die allgemeingültige (wie auch falsche) Annahme, dass Männer/Frauen sich eben männlich/weiblich verhalten müssen, so die Psychologin. Wenn Frauen sich dennoch männlich verhalten (oder umgekehrt), bewerten die meisten dies als abweichendes Verhalten – es wirkt erstmal seltsam. Weil Devianz-Verhalten also oftmals nicht so gut bei unserer Umwelt ankommt, wollen die meisten schon freiwillig ihrer Geschlechterrolle entsprechen. So konnten sich Männer-Frauen-Klischees gesellschaftlich überhaupt erst ihren Weg bahnen. Oder, wie Bärbel Kerber es in ihrem Text „Von wegen typisch Frau, typisch Mann“ treffend formuliert: „Mädchen sind süß und spielen zu Hause – Jungen sind wild und erobern die Welt“.

Wir haben bereits in unserem Text über Gefühlskrüppel und auch bei den E-/S-/B-Gehirnen Beispiele für adaptierte Rollenmuster und Empathie vorgestellt. Mädchen sind per se nicht etwa empathischer als Jungs. Sie zeigen nur häufiger offen ihre Empathie und niemand erwartet etwas anderes von ihnen, denn Einfühlungsvermögen & Co. sind klassisch weibliche Attribute. Zeigen Jungs dieses Verhalten übermäßig, gelten sie schnell als verweichlicht oder sogar tuntig. Kinder erlernen diese Unterscheidungskriterien sehr schnell und manifestieren dadurch erlernte Rollenklischees bis zum Pubertätsstadium. Dies geschieht meist durch die Eltern, das schulische Umfeld bzw. außerschulische Milieus oder allgemeine Gesellschaftskonventionen, so die Psychologin. Für alle, die mehr zu diesem spannenden Thema erfahren möchten, empfiehlt Fine das Taschenbuch „pink brain blue brain“ (2012) von Lise Eliot.

Hilft es denn, wenn Kinder geschlechtsneutral erzogen würden? Naja… zunächst ist es unmöglich, Kinder heutzutage geschlechtsneutral zu erziehen. Fine bezieht sich auf die Märkte, die mittlerweile fast keine neutralen Produkte mehr anbieten. Schon Strampelanzüge sind entweder rosa oder himmelblau… dieses Schema zieht sich konstant durch. Auch in der Anwendungsbestimmung neutrale Produkte (Brotdosen, Zahnbürsten oder Kinderfahrräder) werden im Prinzessin Lillifee- bzw. Bob-der-Baumeister-Format angeboten. An einem Schultornister lässt sich mit nur wenigen Blicken mittlerweile locker das Geschlecht des Besitzers bestimmen. Das hat jedoch weniger gesellschaftliche, sondern eher wirtschaftliche Gründe. BWL-Experten haben schon vor langem begriffen, dass man einer Familie mit zwei Kindern (Junge und Mädchen) durchaus zwei Kinderfahrräder verkaufen kann, wenn diese nur geschlechtsspezifisch genug sind. Selbst wenn eine geschlechtsneutrale Erziehung möglich wäre, erlernen Kinder auch im zwischenmenschlichen Umgang Rollenmuster durch ihre Umwelt.

Die Tochter eines guten Freundes von mir hat sich stets für Insekten begeistern können. Seit sie jedoch den Kindergarten besucht, fürchtet sie sich vor Krabbelzeugs, weil die anderen Mädchen dort ihr diese Antipathie beigebracht haben. Sie hat sich den Ekel vor Käfern und Spinnen buchstäblich bei den anderen abgeschaut. Geschlechterrollen werden ebenso verbreitet. Kinder beobachten, wie sich andere Kinder ihres Alters verhalten. Da sie sich mit gleichaltrigen Spielkameraden identifizieren wollen, übernehmen sie zwangsläufig deren Verhaltensweisen. Verstärkt wird dies noch durch die altbekannte Schulhofparole „Jungs/Mädchen sind doof!“ Wer sich in diesem Geschlechterkrieg zwischen die Fronten stellt, wird meist zügig ausgegrenzt. Kinder werden damit unterbewusst dazu gezwungen, sich für ihre Seite zu entscheiden.

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In ihrem Buch „Delusion of Gender“ erklärt Cordelia Fine, dass Mädchen die unter Jungs groß werden, auch eher dazu geneigt sind, männliche Verhaltensmuster anzunehmen. Geschlechterklischees sind dabei keinesfalls ungefährlich, wie Fine belegt. So bewirken sie doch immerhin, dass Kinder bereits sehr früh unpassende Rollenmuster verwerfen, weil diese einfach nicht ihrer Geschlechterrolle entsprechen. Das kann nicht nur dazu führen, dass Talente ungefördert bleiben, sondern kann mitunter echte Identitätskrisen verursachen. Viele Transgender-Menschen berichten davon, wie sehr sie unter den geschlechtsspezifischen Anforderungen an ihre ursprüngliche Rolle als Mann/Frau gelitten haben.
Halten wir also fest: Geschlechteridentitäten sind erlernte Rollenmuster in die wir schon als Kinder gedrängt werden, bis wir sie als Selbstverständlich adaptieren. Daraus entspringen auch die typisch männlichen/weiblichen Verhaltensmuster.  Hier erfahren Sie mehr zum Wandel der Geschlechterrollen.

Mit Liebe recherchiert…

Quellen:

Kerber, B. „Von wegen typisch Frau, typisch Mann“, Psychologie heute compact, Heft 40, 2015.

Warkentin, N. „Selbsterfüllende Prophezeiung: Definition, Beispiele Psychotipps“. Karrierebibel vom 25.05.2016. URL: https://karrierebibel.de/selbsterfuellende-prophezeiung/