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Liebe ist eine der persönlichsten und individuellsten Sachen im Leben. Sie prägt unsere Gefühle und unseren Verstand. Die Soziologie hingegen betrachtet lieber die Verhaltensdynamiken in Gruppen, in Nationen oder fängt gleich bei der Weltgesellschaft an. Prof. Dr. Udo Thiedeke, Forscher für allgemeine Soziologie, Systemtheorie und Medien mit Lehrauftrag an der Uni Mainz und TU Darmstadt, hat in einem Interview aus 2014 Einblicke in das Forschungsthema Liebe gegeben.

Lässt sich Liebe denn überhaupt soziologisch erfassen? Naja… Dass sich immer wieder Soziologen mit ihr auseinandergesetzt haben, spricht klar dafür. Liebe ist ein kollektives Verhalten und ihre Rituale sind weitestgehend gesellschaftlich standardisiert. Szenen wie Händchen halten, Blümchen kaufen oder der Minnesänger, der vor dem Fenster des Burgfräuleins sein Liedchen schmettert, sind Symbole, die jeder von uns sofort dem Romantikschema zuordnen kann. Aber Liebe ist ja nicht direkt greifbar. Ins gesellschaftswissenschaftliche Zentrum rückt deshalb das Erleben von Liebe. Liebe könnte demnach soziologisch als Veränderung des Erlebenszustands betrachtet werden, der sich bei jedem Menschen ganz individuell und intim gestaltet. Diese Definition geht Thiedeke jedoch noch nicht weit genug. Für den Uni-Professor ist Liebe mehr als nur das persönliche Empfinden.

Und warum sollte sich die Soziologie überhaupt für die Liebe interessieren? Dieses Forschungsinteresse ist schnell begründet: Liebe (re)produziert und verändert soziale Beziehungen und hat auf diesem Weg direkte Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Aber ist das dann noch konkret Liebesforschung oder doch eher Gesellschaftstheorie? Da sich beide Bereiche gegenseitig bedingen, ist es tatsächlich beides. Es stimmt, dass der gesellschaftliche Kontext der Liebe immer Auswirkungen darauf hat, mit wem wir uns einlassen. Dadurch entsteht eine Art vorgegebener Rahmen, in dem sich die Gesellschaftsteilnehmer finden und binden können. Dass dieser Rahmen höchst wandelbar ist, beweist aber auch gleichzeitig das soziologische Interesse an der Liebe als Katalysator dieses Rahmens.

Das „Warum“ ist somit schnell erklärt, doch die Methodenvielfalt ist viel interessanter. Wie soll man denn überhaupt etwas über die Liebe herausfinden, wenn man als Forschungsgegenstand eine ganze Gesellschaft vor sich hat? Wir können ja schlecht mit jedem einzelnen reden. Wie arbeitet also die Gesellschaftsforschung bei einem so komplexen Thema wie Liebe? In kleinen Schritten können Phänomene beobachtet werden und langfristig kann man dadurch ihre Veränderungen messen. Liebe kann also durchaus empirisch erforscht werden, wie Prof. Dr. Thiedeke bestätigt. Besser formuliert: In Zahlen, Daten und Fakten. Solche quantitativen Erhebungen sind schnell aufgestellt, wenn man genug Probanden findet, die zur Beantwortung eines Fragebogens bereit sind. Begründungsansätze für bestätigte Phänomene können dann gezielt überprüft werden, um die Aktion-Reaktion-Mechanismen dahinter zu ergründen.

Art und Richtung möglicher Forschungsansätze sind in der Soziologie keinerlei Grenzen gesetzt: Nehmen wir die Erfindung der romantischen Liebe. Was hat sie mit unserer Art zu Lieben gemacht? Welche Faktoren mussten ihrem Durchbruch den Weg ebnen? Frauen durften beispielsweise lange Zeit nicht selbst einen Partner wählen, sondern wurden auf Basis finanzieller oder dynastischer Aspekte bzw. der Erb-Logik folgend verheiratet. Im 17.-18. Jahrhundert kam es zu einer Neubewertung des Beziehungsmusters. Auf dem Weg zum heutigen Liebesverständnis hat sich die soziale Einordnung ständig verändert. Der Aspekt des eigenständigen Entdeckens und Auswählens, kam als entscheidende Neuerungen hinzu, so Thiedeke. Dadurch wurde der Grundbaustein für die entgrenzten Möglichkeiten von heutigen Partnerschaften gelegt. Mittlerweile gibt es deutlich weniger Hürden auf dem sozialen, beruflichen oder emotionalen Sektor. Macht diese Entgrenzung aber wirklich frei, oder führt sie uns in einen Dschungel der Ahnungslosigkeit darüber, welcher Weg der richtige ist? Ebenso haben sich räumliche Distanzen enorm verändert. Früher blieb die Liebe oftmals in der kleinen Gemeinde, in der man geboren wurde. Gerade das Internet hat die ganze Welt für uns erreichbar gemacht. Das Kommunikationspotenzial hat sich vervielfacht. Was macht das mit unserer Paarfindung? Was bedeutet das dann wieder für die Anforderungen an unsere Selbstdarstellung – und damit für unser Selbstbild? Gesellschaftliche Konventionen bestimmen auch unsere heutige Art zu Lieben mit. Treue, Dating-Rituale, emotionale Hingabe… – wer sich diesen Konventionen entzieht, wird in der Liebe keinen großen Erfolg haben. Es sind Faktoren, die wir von anderen ungefragt einfordern, da sie auch von uns eingefordert werden. Liebe hat somit eigene Zusammenhänge, die auch in sich logisch strukturiert sind. Sie hat eine eigene Codierung, eigene Programme und Schemata, so Thiedeke. Also: Was soziologisch erfassbar ist, kann auch erforscht werden.

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Beispielsweise können empirisch die Ähnlichkeiten funktionaler oder auch instabiler Beziehungen gemessen werden. Das eröffnet jede Menge Vergleichsmöglichkeiten. Wie funktional sind Beziehungen mit möglichst gleichen/unterschiedlichem Schicht-/Kulturhintergrund, Glauben, Habitus etc…? Wie bestimmen individuelle Faktoren unsere Beziehungen und welche Paare sind weshalb am glücklichsten? Der soziologischen Ideen-Vielfalt sind hier nur wenige Limits gesetzt. Interessant ist auch die Beobachtung, wie das heutige Liebesideal kommuniziert wird. Wie hat sich unsere Partnersuche verändert? Warum wurde das Konzept des Minnesängers antiquiert und durch eine Tinder-App ersetzt bzw. was musste gesellschaftlich geschehen, damit dieser Wandel überhaupt möglich wurde? Spannend wäre auch ein soziologisches Krisenexperiment, bei dem geprüft wird, wie ein Minnesänger heute ankäme… vermutlich wäre das aber eher eine teilnehmende Beobachtung, wie sich jemand bis auf die Knochen blamiert.

Wir erinnern uns an den Systemtheoretiker Niklas Luhmann – Die Liebe ist kein System, weil sie kein Gefühl ist. Nun gut… die Liebe vielleicht nicht, aber Paarbeziehungen können soziologisch als System betrachtet werden. Die Liebe ist dabei ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium in diesem System. Deshalb kann Liebe auch kein eigenes System sein. Wenn beispielsweise die Liebe in dem System Partnerschaft versickert, muss die Frage geklärt werden, wie sie sich dann noch soziologisch fassen lässt? Das geht über die Interaktionen in der Beziehung. Wer die Liebe als Kommunikationsmittel einer Beziehung zu Grunde legt, lernt den Partner fast so gut kennen wie sich selbst. Diese Kenntnis über die intimsten Persönlichkeitsmuster des Partners bleibt für immer erhalten.

Auch wenn die Beziehung Routinearbeit geworden ist und die Liebe nicht mehr offen kommuniziert wird (durch Gesten oder ausgesprochene Bekundungen) heißt das nicht, dass sie schon verflogen ist. Im Zentrum einer Liebe steht gerade zu Beginn einer Beziehung nur die andere Person. Bei einer festen Partnerschaft mit gemeinsamem Haushalt und einer Ehe werden dann auch andere Themenbereiche mit der Liebe verknüpft. Kinderwünsche, gemeinsame Anschaffungen, ein Hausbau etc… Schnell ist man vom nicht einklagbaren Gefühl der Liebe bei echten Sachwerten, denen im Extremfall Scheidungsrichter und Sorgerechtsanwälten ihre Aufmerksamkeit zuwenden müssen. Soziologisch müssen das System „Beziehung“ und ihr Kommunikationsmedium „Liebe“ somit immer getrennt bleiben.

Luhmann betrachtete Liebe als paradoxes Kommunikationsmedium, weil man die eigene Freiheit in der Freiheit des anderen liebt. Es kann nicht von Willensfreiheit die Rede sein, sobald man sich auf jemand anderen einlässt und aus dem individuellen Erleben ein gemeinsames Erleben wird – deshalb paradox. Ein Ausleben der kompletten Individualität ist innerhalb eines Rollenschemas so gut wie unmöglich. Um Phänomene wie Freundschaft Plus von echter Liebe zu differenzieren, muss also das Erleben des Selbst durch die andere Person in den Fokus genommen werden.

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Aber wenn Liebe doch eine Veränderung des Erlebniszustandes darstellt, inwiefern ist intimes Erleben dann noch darstellbar? Naja, auch hier können Veränderungen gemessen werden. Qualitative Perspektiven sind zwar schwierig zu erfassen, dennoch ist mit Hilfe von cleveren Interview-Reihen oder einer teilnehmenden Beobachtungen durchaus einiges möglich. Wenn Sie sich nun fragen, „Wen“ oder „Was“ man dabei teilnehmend beobachten sollte… das hängt von der Forschungsfrage ab. Wer etwas über die heutige Streitkultur lernen möchte, könnte bei hundert Sitzungen Paartherapie eines Eheberaters als stilles Mäuschen teilnehmen und sich ein Bild darüber machen, ob gewisse Muster wiederholt in kriselnden Beziehungen auftreten. Laut Professor Dr. Thiedeke lädt außerdem das Internet mit seinen Partnerbörsen regelrecht dazu ein, beobachtet zu werden.

Bestimmte Rollenbilder und die ihnen zu Grunde liegenden Veränderungsmechanismen könnten somit gezielt hinterfragt werden. Daraus lassen sich Forschungsdesigns generieren, die die moderne Liebe beleuchten. Ferner könnte man Maslows Bedürfnispyramide in heutigen Paardynamiken neu prüfen. Was bewirken beispielsweise die Veränderungen der Rollenbilder in heutigen Beziehungen? In der Vergangenheit haben wir immer wieder gesehen, dass gewandelte Rollenidentitäten die Gesellschaft verändert haben. Denken Sie an die moderne Frau der goldenen Zwanziger Jahre, die freie Liebe der 68er Generation, die (berufliche/gesellschaftliche/sexuelle) Emanzipation… Wohin uns die Umbrüche von heute zukünftig führen werden, ist es wert erforscht zu werden. Wie wirkt die zunehmend abgebaute Geschlechterdifferenz auf die Gesellschaft? Obwohl Geschlechterungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt auch heute noch trauriger Alltag sind, hat nicht zuletzt die #MeeToo-Debatte das Thema Chauvinismus auf ein ganz neues Level gestellt. Damit ging eine gesellschaftliche Sensibilisierung auf sexistischen Humor (Locker Room Talk) einher. Wo uns solche Trends hinführen werden, lässt sich allenfalls vermuten… aber genau dafür brauchen wir die Soziologie – um Prognosen über das zukünftige Verhalten von gesellschaftlichen Wertemustern und Rollenbildern zu bekommen.

In diesem Sinne… Make Systems Theory Great Again

Quelle:

Soziologiemagazin „Soziologie der Liebe – Ein Interview mit Prof. Dr. Udo Thiedeken“. Am 26.11.2014 von „Soziologiemagazin“ auf Youtube hochgeladen.

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