Sie wurde in den 1970ern von dem Psychiater Peter Sifneos bei Patienten mit chronischen Schmerzleiden gefunden, obwohl sie sich auch bei vielen völlig gesunden Menschen diagnostizieren lässt. Bis 2015 war bei etwa 10% der durchschnittlichen Weltbevölkerung bereits Alexithymie diagnostiziert worden. Auch ohne physische Leiden, hat jeder Mensch einen anderen Bezug zu den eigenen Gefühlen. Manche Charaktere sind eher verschlossen, andere gehen besonders gern aus sich heraus. Auch im Umgang mit impulsiven Gefühlsausbrüchen (Trauer, Wut, Schuld, Angst) hat jeder von uns eine andere Hutschnur-Länge. Dieser Bezug kann sich zudem im Laufe eines Menschenlebens mehrfach verändern, abhängig von den Umwelteinflüssen. Männer und Frauen liegen übrigens im Alexithymie-Ländervergleich gleichauf. Hier erfahren Sie, warum wir Männern häufig Gefühlsblindheit vorwerfen.
Sabine Aust vom Universitätsklinikum der Berliner Charité erklärt, dass Alexithymie keinesfalls eine psychische Erkrankung darstellt, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal ist. Manche fühlen einfach weniger. Das heißt aber nicht, dass Betroffene nicht auch an Depressionen erkranken können. Differenziert werden zudem drei unterschiedlich starke Formen der Gefühlsblindheit. Manche Menschen können ihre eigenen Gefühle nicht besonders gut einordnen. Andere haben Schwierigkeiten damit, sich in ihre Mitmenschen hineinzuversetzen, wenn diese beispielsweise wütend oder traurig sind. Die Fähigkeit eigene beziehungsweise fremde Gefühle erfassen zu können, ist bei den meisten Betroffenen nur einseitig geschwächt – in schweren Fällen sind beide Bereiche betroffen.
Aber warum sollten wir uns dann nicht einfach für Alexithymiker freuen? Wer für Konflikte unempfänglich ist, lebt grundsätzlich entspannter. Und wer gerade negative Gefühle gar nicht an sich heranlassen kann, hat es doch damit viel einfacher… möchte man meinen. Gerade den schweren Fällen liegt oftmals ein unverarbeitetes seelisches Kindheitstrauma zu Grunde. In einer Art mentalem Abwehrmechanismus werden Emotionen abgeschottet und letztendlich dauerhaft blockiert, so Aust. Hirnsegmente im limbischen System und im Hyppocampus blocken dabei die Ausbildung von Nervenzellen ab, die für emotionale Lernprozesse zuständig sind und Persönlichkeiten emphatisch machen. Gehirnscans der Forscher am Berliner Charité zeigten tatsächlich eine verminderte Hirnaktivität bei untersuchten Alexithymie-Probanden. Nochmal: Das bedeutet keinesfalls, dass diese Menschen dümmer sind, sondern bezieht sich nur auf die (Fremd-)Wahrnehmung von Emotionslagen. MRT-Scans bewiesen, dass Alexithymiker auf Fotos von Gesichtsausdrücken nur dann einwandfrei die dazugehörige Gefühlslage lesen konnten, wenn die Fotos eindeutig Angst, Ekel, Wut etc. zeigten.
Gerade hier liegt auch das Problem, so Sabine Aust. Im alltäglichen Miteinander sind kleine Gesten, Blicke oder ein leichtes Augenrollen erhebliche Kommunikationsmechanismen. Wer ein zynisches Lachen nicht von ernst gemeintem Humor unterscheiden kann oder Schwierigkeiten mit dem Spiel der Mimik hat, kann im sozialen Umgang am Arbeitsplatz durchaus Nachteile daraus ziehen. Die heutige Berufswelt verlangt immer mehr Social Skills, die Menschen mit Gefühlsblindheit einfach nicht haben. In Beziehungen sind es auch ebensolche Menschen, deren Gleichgültigkeit irgendwann zum Weglaufen ist. Was anfangs noch als coole Lässigkeit ankommt, wird rasch zu der bitteren Erkenntnis, dass der Partner einfach keine Gefühle hat, sondern roboterhaft wie eine Maschine funktioniert. Zugegeben, das menschelt wirklich nicht sehr. Alexithymiker machen dabei jedoch nichts aktiv falsch, sondern wundern sich meist nur, schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten zu sein.
Wenn emotionale Unbegabtheit doch aber keine Krankheit ist, kann man dann auch gar nichts therapieren? Oh doch, das ist schon möglich, aber (abhängig vom Schweregrad der Gefühlsblindheit) nicht immer nötig. Der Psychiater Hans-Jörgen Grabe vom Universitätsklinikum Greifswald erklärt, dass er viele Depressionspatienten behandelt hat, deren Erkrankung von der Unfähigkeit ausging, ihre eigenen Gefühle richtig zu erkennen. Daher ließen sie emotionale Baustellen sehr lange brach liegen, bis sich diese zu echten psychischen Problemen manifestieren konnten. Auf die Alexithymie können sich somit schwere Krankheiten draufsetzen. Hinter Depressionen oder auch Angststörungen verbirgt sich nicht selten eine Form der Gefühlsblindheit. Und obwohl diese nicht direkt therapierbar ist, können Betroffene durchaus ein Gespür für die Erfassung von (eigenen) Gefühlen bekommen. Sie können lernen, sich speziell auf die Erfassung von Emotionslagen zu konzentrieren, den Umgang mit ihnen üben und Verhaltensmuster in bestimmten Kontexten erlernen.
Und wenn Sie sich mal wieder über etwas ärgern, halten Sie doch vielleicht einmal kurz inne und freuen Sie sich, dass Sie sich überhaupt ärgern können. Denn ein weises chinesisches Sprichwort sagt: „Achte auf deine Gedanken, denn sie werden zu Gefühlen. Achte auf deine Gefühle, denn sie werden zu Worten. Achte auf deine Worte, denn sie werden zu Handlungen. Achte auf deine Handlungen, denn sie werden zu Gewohnheiten. Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.“
Mit Liebe recherchiert…
Quellen:
Stangl, W. „Alexithymie Gefühlsblindheit“ Stangls Arbeitsblätter, Linz 2018. URL:http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/EMOTION/Alexithymie.shtml
Wilhelm, K. „Kein Gefühl für Gefühle“ Psychologie heute. 42 Jahrgang, Heft 12 aus Dezember 2015: Seiten 40-42.
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