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Die radikalste Ausprägung der Eugenik war die sogenannte Rassenhygiene der Nationalsozialisten. Eine perverse Form von Darwins Erkenntnis, dass sich immer nur die am besten angepasste Lebensform durchsetzen kann. Die NS-Kopfvermessungen fußten auf klaren Zuschreibungen darüber, welcher Mensch besser oder schlechter angepasst war. Die ihr zu Grunde liegende Physiognomik bezog sich jedoch schon lange vor dem Dritten Reich auf die Anordnung der Augen, die Breite des Mundes oder die Form der Nase, um Aussagen über die Leistungsbereitschaft oder Intelligenz von Menschen zu treffen. Diese kranke Theorie verarbeiteten die Nazis zu vermeintlich wissenschaftlichen Belegen, die das damals vorherrschende Bild einer angeblichen Herrenrasse in der Gesellschaft zu bestätigen versuchten. Zum Glück wurden die Rassenhygiene und ihre wissenschaftlichen Begründungsstrategien schon vor langem antiquiert. Sie dienen heute allenfalls als abschreckendes Beispiel. Dennoch muss gesagt werden, dass wir Menschen schon immer anhand phänotypischer Merkmale über andere geurteilt haben. Wechselseitige Zuschreibungen von Charakterzügen qua des Aussehens gab es schon immer und sie werden vermutlich noch sehr lange ein Teil des menschlichen Miteinanders/Gegeneinanders sein. Schon Karl Simrock schrieb dazu: „Man empfängt Menschen nach dem Kleide und entlässt sie nach dem Verstand.“

Was bedeutet es aber für uns, wenn wir Menschen nach ihrem Äußeren beurteilen? Zunächst sind es unterbewusste Prozesse, die schneller ablaufen, als wir sie logisch erfassen oder reflektieren können. Ein kurzes Gespräch, eine einzige Geste oder schon ein flüchtiger Blick reichen aus, um bestimmte Gefühle in uns zu erzeugen. Unsere spontane Wahrnehmung ist längst getriggert, noch bevor wir über sie nachgedacht haben. Wenn wir uns erst ein Bild von unserem Gegenüber gemacht haben, kann dies sehr lange erhalten bleiben. Der berüchtigte erste Eindruck ist dabei nichts anderes, als ein extrem unzuverlässiger Schnellschuss.

Die Sozialpsychologin Nalini Ambady zeigte Probanden einer Studie kurze Videosequenzen verschiedener Lehrer vor einem Auditorium. Die Meinungen der Studienteilnehmer zum pädagogischen Können der Lehrer in den Videoausschnitten waren verblüffend einstimmig. Ambady entwickelte die These, dass Menschen sich oftmals gar nicht mehr die Mühe machen wollen, ihr Gegenüber ausreichend zu reflektieren. Wozu denn auch lange nachdenken, wenn das erste spontane Bauchgefühl doch sowieso meistens richtig ist?! Aber ist es das wirklich? Empirische Überprüfungen dieser Behauptung widersprechen hier laut und deutlich. Experimente in unterschiedlichsten Testreihen kamen allesamt zu dem Schluss, dass komplexe Aussagen niemals das Produkt eines Schnellurteils sein können. Sicherlich gibt es Aspekte für die eine kurze Musterung ausreicht, aber da wir nicht wissen, wo die Grenze zwischen erstem Eindruck und haltloser Mutmaßung verläuft, laufen wir Gefahr, mit Schnellurteilen auch sehr schnell sehr falsch zu liegen.

Der renommierte Psychologe John Gottman von der Universität Washington konstatierte einmal, er könne die Haupt-Beziehungsprobleme eines Pärchens schon nach wenigen Augenblicken erkennen. Er sprach sich nicht nur explizit für die Wirksamkeit solcher Schnelldiagnosen aus, sondern bewertete sie sogar als zutreffender als aufwendige Psychogramme. Angeblich konnte der Psychologe nach wenigen Minuten herauskristallisieren, wann sich ein Pärchen wieder trennen würde (und warum). Seine Diagnosen trafen auch mit erstaunlicher Präzision zu. Der Gottman-Mythos wurde dennoch zügig widerlegt. Zum einen, weil Gottman selbst erklärte, dass seine Urteile keinesfalls in wenigen Minuten entstanden, sondern nach durchschnittlich zwei Tagen intensiver Fallbearbeitung getroffen wurden, und zum anderen, weil der Paartherapeut jede Aussage auf Basis seines gigantischen Wissensstands und einer herausragenden Intuition erstellte. Seine 2-Tages-Diagnosen waren vielleicht schnell, aber keinesfalls aus der Luft gegriffen. Sie basierten auf den Erkenntnissen tausender Studien und einem reichen Fundus an empirischen Forschungserhebungen und trafen deshalb häufig zu. Gottman hatte schlichtweg so viel Erfahrung auf dem Gebiet gesammelt, dass er extrem gut in seinen Prognosen sein konnte.

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Die grundlegenden Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen lassen sich meist sehr genau einschätzen. Auch Gefühlsregungen wie Wut, Ekel oder Angst können wir ohne große Mühen erkennen und meist richtig einordnen. Ebenso, ob sich jemand aufgeschlossen oder distanziert verhält, ist sehr schnell geklärt. Für positive Gefühlsregungen (gute Laune, entspannte Aufgeschlossenheit oder auch Ehrlichkeit) brauchen wir viel länger von der Vermutung bis hin zur fundierten Meinung. Das liegt vermutlich am evolutionären Überlebensmuster. Wer die Angst anderer falsch interpretierte, lief möglicherweise nicht schnell genug vor wilden Tieren oder Feinden davon. Wer den Ekel anderer missdeutete, nahm möglichweise verdorbene Nahrung oder schlechtes Wasser zu sich. Beides konnte früher leicht dazu führen, dass man selbst Schaden nahm. Deshalb konnten vorsichtige Menschen mit einem guten Gespür für Gefahren ihre DNA-Anlagen proportional häufiger weitervererben, als Menschen, denen dieses Gespür fehlte. Für eine solche gute Einschätzung war es wichtig, dass die Reaktionen anderer Menschen sehr schnell definiert werden konnten – gerade die Gesten oder Gesichtsausdrücke, die vor Gefahren warnen sollten.

Sicherlich können wir uns alle verstellen und auch mehr oder weniger gut unsere Gesichtszüge kontrollieren, aber eben nicht immer. Der Psychologe Paul Ekman spricht von Reaktionen unserer Mimik, die sich in Sekundenbruchteilen einstellen. Ob wir wollen oder nicht, kann unsere wahre Natur in solchen Mikroexpressionen durchsickern und verraten, was wir wirklich gerade denken. Auch hier sind Gefühle wie Angst, Abscheu oder Verachtung viel schneller als positive Mikroexpressionen.

Somit wird klar, dass der erste Eindruck ein guter Anhaltspunkt sein kann, das richtige Kennenlernen eines anderen Menschen jedoch keinesfalls ersetzt. Die Liebe auf den ersten Blick setzt eine klare Erwartungshaltung bei uns voraus. Wir müssen in der passenden Gefühlslage sein, um überhaupt für die Liebe auf den ersten Blick offen sein zu können. Mehr dazu erfahren Sie hier. Genau das macht die Liebe auf den ersten Blick jedoch so trügerisch. Außerdem ist sie, selbst wenn beide sie in diesem Moment gleichsam empfinden, noch lange kein Garant dafür, dass die daraufhin entstehende Beziehung stabiler wäre, als ohne diesen Augenblick. Sobald ein Paar sich gefunden hat, greifen die bekannten Liebesschwankungen und auch dem nivellierenden Serotoninhaushalt kann selbst die schönste Liebe auf den ersten Blick nicht dienlich werden. Sobald wir uns langfristig an jemanden binden, kommen viele unterschiedliche Faktoren zum Tragen, die mit der Art des Kennenlernens nicht wirklich viel zu tun haben. Und wer es nicht so eilig hat, kann immer noch mit der Liebe auf den zweiten Blick arbeiten…

Mikroexpressionen hin oder her: Wer aktiv gegen die Macht des ersten Eindrucks gegensteuern möchte, sollte versuchen, sich in den anderen hineinzuversetzen. Reflektieren Sie ihre Stereotypen und hinterfragen Sie, weshalb eine Person von Ihnen positiv/negativ eingeschätzt wird. Außerdem gewinnt der erste Eindruck immer nur dort, wo Menschen sich nicht die Mühe machen wollen, noch mehr dazuzulernen. Bleiben Sie deshalb immer wachsam und schließen Sie die Beobachtungen eines anderen Charakters niemals ab. Dies bestätigte eine Studie der Universität Austin, Texas. Der Professor Paul Eastwick befragte seine Studenten dort zu Semesterbeginn, von welchen Kommilitonen/innen sie sich angezogen fühlten. Nach einigen Monaten wiederholte er diesen Test und bekam komplett unterschiedliche Antworten, die sich keineswegs mit dem ersten Erhebungsergebnis deckten. Der Grund: Die Studenten hatten sich über die Semesterzeit hinweg deutlich besser kennengelernt, ihre wechselseitigen Meinungen überdacht und ihre ersten Eindrücke entsprechend angepasst oder sogar revidiert.

Denken Sie vor diesem Hintergrund einmal an die automatische Gesichtserkennung an Flughäfen oder öffentlichen Plätzen. Mittlerweile existieren Gesichtserkennungs-Softwares, welche die Impressionen des Gesichtes einem Verhaltensmuster zuordnen können. Dass eine Kamera ein Gesicht filmt und daraufhin Vermutungen zu den Absichten eines Menschen treffen kann, klingt bereits sehr gruselig… Mit Blick auf die Fehlerquote solcher Programme wird dieser digitale Auswertungsprozess noch beängstigender. Hier steckt die digitalisierte Form der pseudowissenschaftlichen Physiognomik noch in den Kinderschuhen – nur dass diesmal ein Computer darüber entscheidet, wie wir ticken und was wir beabsichtigen.

Das Pilotprojekt, den Charakter eines Menschen an dessen Gesichtszügen zu erkennen, ist dabei bereits mehr oder weniger gescheitert. Die Algorithmen der US-Flugsicherheitsbehörde verzeichneten zwischen 2006 und 2009 an 161 Flughäfen insgesamt 232.000 positive Treffer. Weniger als 1 Prozent von diesen potenziellen Gefährdern, waren tatsächlich echte kriminelle Individuen – Terroristen konnte die Software übrigens nicht finden. Mit dem, was Sie hier über den Gehalt des ersten Eindrucks gelernt haben, steht es Ihnen nun frei, solche Computerprogramme zur Gesichtserkennung zu bewerten. Wenn wir schon Probleme dabei haben, die Gesichter eines anderen Menschen korrekt zu lesen, lässt das für gesichtserkennende Datenverarbeitungs-Rechner allenfalls eine skeptische Mikroexpression zu.

Seien Sie also unbesorgt. Sie können gar nicht am ersten Eindruck anderer rütteln. Sie können lediglich ihren eigenen ersten Eindruck von Ihren Mitmenschen einer kritischen Prüfung unterziehen und darüber hinaus nur noch dazulernen. Somit ist es einfach nur ein Zeichen von Fairness, wenn wir alle unsere Klischee-Schubladen regelmäßig überprüfen und eine Kontrolle des ersten Eindrucks lohnt sich in jedem Fall, denn…

…obwohl der erste Eindruck maßgeblich zu zählen scheint, bleibt der letzte Eindruck meist für immer.

Mit Liebe recherchiert…

Quellen:
Wolf, A. „Wie tickt dieser Mensch? Die Macht des spontanen Eindrucks – und warum dem ersten Blick unbedingt ein zweiter folgen sollte“ Psychologie heute, 44. Jahrgang – Heft Nummer 9, September 2017: Seiten 18-27.

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